Die Debatten um die Formationen verdecken dabei manchmal
die Tatsache, dass die Weltmeisterschaft seit jeher ein Schlachtfeld der Taktik
ist, die das unterstützt, was die Brasilianer als „futebol d'arte“ (einfacher,
offensiver Fußball) oder „futebol de resultados“ (defensiver Fußball)
bezeichnen. Das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Stilen in ihren
verschiedenen Ausprägungen bestimmt die Landschaft des Weltfußballs.
Die Fußballweltmeisterschaft hat gerade erst begonnen und im Vorfeld eines
jeden Spiels gibt es unzählige Diskussionen über die verschiedenen Spielweisen,
die jedes Land anwenden wird. Werden sie ein 4-4-2, ein4-2-3-1 oder ein reines 4-3-3 spielen?
Für
diejenigen, die sich mit Fußballtaktik nicht so gut auskennen: Ein 4-4-2 ist
eine Formation mit vier Verteidigern, vier Mittelfeldspielern und zwei
Stürmern, während eine 4-2-3-1-Formation aus vier Verteidigern, zwei defensiven
Mittelfeldspielern, drei offensiven Mittelfeldspielern und einem Stürmer besteht.
Eine Diskussion, die ebenfalls große Auswirkung auf die WM Quoten hat, da die Wahl der Taktik selbstverständlich den Ausgang
eines jeden Spiels beeinflusst, sei es positiv oder negativ.
Ein paar zeitgenössische Beispiele verdeutlichen den
Kampf zwischen den beiden Stilen. Die brasilianischen Mannschaften der
Weltmeisterschaften 1958 bis 1970 boten einen der aufregendsten und kreativsten
Fußbälle, die je gespielt wurden. Hier wurden zum ersten Mal die Begriffe „futebol
d'arte“ oder „Sambafußball“ geprägt. Die Brasilianer begeisterten nicht nur die
Massen, sondern gewannen auch dreimal die Weltmeisterschaft: 1958, 1962 und
1970.
Janet Levers „Soccer Madness“ gibt einen Einblick in die
Rolle des „Samba-Fußballs“ bei der Gestaltung des brasilianischen
Nationalbewusstseins während dieser goldenen Zeit. Sie argumentiert, dass der
brasilianische Fußball die rassischen, ethnischen und religiösen Strukturen des
Landes überwand - nicht, weil er international gewann, sondern wegen des Stils,
in dem er gewann.
Zu den anderen Angriffstaktiken gehörte in den 1970er
Jahren die niederländische Philosophie, die als „totaler Fußball“ bekannt
wurde. Bei diesem Ansatz gab es außer dem Torwart keine festen Positionen, und
das Ziel bestand darin, in Ballbesitz zu bleiben und dem Gegner den Ball zu
verweigern. Sowohl bei der Weltmeisterschaft 1974 als auch bei der
Weltmeisterschaft 1978 unterlagen die Niederländer im Finale.
Im Finale von 1978 verloren die Niederländer gegen
Argentinien, das von Carlos Menotti trainiert wurde. Menotti engagierte sich
für die Unterhaltung des Fußballs; Er sah das Spiel als eine Kunstform, die
aufgrund ihrer Schönheit die Jugend begeistern würde.
In dieser Zeit wurde vielen Nationalmannschaften klar,
dass sie dem Offensivdrang der Brasilianer oder der Niederländer nicht
gewachsen waren. Neue Defensivtaktiken wurden entwickelt, um dieser offensiven
Dominanz zu begegnen. Die Philosophie ging dahin, dass es nur noch ums Gewinnen
ging und um nichts anderes: Wenn man Unterhaltung wollte, sollte man ins
Theater gehen.
Mannschaften wie Italien, das die Weltmeisterschaften
1982 und 2006 gewann, stützten sich auf ein System, das als „catenaccio“ („die
Kette“) bezeichnet wurde und darauf abzielte, die Angreifer auszuschalten und
Tore zu verhindern. Es überrascht nicht, dass andere Mannschaften diesen Ansatz
schnell übernahmen. Viele Spiele in dieser Zeit waren eine trostlose
Angelegenheit, die durch „Null-Risiko“ oder „Anti-Fußball“ gekennzeichnet war.
Dieser „futebol de resultados“ war so dominant und
erfolgreich, dass selbst die Brasilianer sich von Flair und Erfindungsreichtum
abwandten und einen eher physischen Ansatz verfolgten, wobei festgelegte Rollen
mehr Positionsdisziplin und weniger Freiheit für die Spieler bedeuteten, sich
selbst auszudrücken. Befürworter dieses Stils in Brasilien verweisen auf die
Triumphe bei den Weltmeisterschaften 1994 und 2002, im Gegensatz zum
Ausscheiden der vielleicht besten brasilianischen „futebol de arte“-Mannschaft aller
Zeiten, zu der unter anderem Socrates und Zico gehörten, im Viertelfinale der
Weltmeisterschaft 1982.
Brasilien hat nach 1990 seinen weithin bewunderten
Offensivstil aufgegeben und versucht, um jeden Preis zu gewinnen. Infolgedessen
hat Brasiliens defensiver Spielstil bei den letzten Turnieren die Nation und
die Meinungen der Experten gespalten.
Doch zur Überraschung vieler hat Spanien bei der WM 2010
die ästhetische Form des Spiels wiederbelebt. Die unterlegenen Spanier (die bei
der Weltmeisterschaft 1950 nur den vierten Platz belegten) führten ein System
ein, das später als „Tiki-Taka“ bezeichnet wurde, ein Kurzpassspiel, bei dem
der Ballbesitz mit One-Touch-Pässen und Bewegung gehalten wird.
Spanien hat mit dieser Taktik die Fußballweltmeisterschaft2010 gewonnen. Der Erfolg bei der Weltmeisterschaft wurde durch den Gewinn der
Europameisterschaft 2008 und 2012 ergänzt. Spieler wie Xavi, Cesc Fabregas und
Andres Iniesta sind heute die Aushängeschilder des „futebol d'arte“. Sie
zeigen, dass Offensivfußball, der von Kreativität und Spielfreude geprägt ist,
seinen Platz hat.
Der heiß umkämpfte Krieg zwischen „futebol d' arte“ und „futbol
de resultados“ wird in den kommenden Wochen erneut in Brasilien ausgetragen. Es
wird ein Kampf zwischen Ästhetik und Ergebnissen ausgetragen werden.
Bei all den Problemen, die die FIFA derzeit mit ihrem
Umgang mit dem Erbe der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, dem
Korruptionsskandal in Katar und den Unruhen in Brasilien hat, wäre es
vielleicht wünschenswert, dass Brasilien mit „futebol d'arte“ gegen ein „tika-taka“-spielendes
Spanien gewinnt. Das ist das Schöne an diesem Spiel.
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